Architektonische Wildnis - Der Stadtgarten als Wasserspeicher.

Amelie Munz
(IGMA/Prof. Trüby)

Wildnis steht oft für eine romantisierte Vorstellung von Freiheit, einer Gegenwelt zur zivilisatorischen Ordnung. Henry David Thoreau flieht in „Walden“ in die Wälder um dieser Zivilisation zu Entkommen und sich einem anscheinend „wirklichen Leben“ zu näher. Doch selbst er besucht fast täglich das nahegelegene Dorf um menschlichen Kontakt zu suchen. Diese Wildnis im Sinne einer von Menschen unberührten, harmonisch - schönen Natur beschreibt einen entfremdeten Blick auf Natur, den nur der in der Zivilisation lebende Mensch entwickeln kann.

Begreift man Wildnis als den Teil der Natur der unbarmherzig und gleichgültig auftritt, in dem Chaos und Zerstörung herrschen so fällt auf, dass der Mensch durch sein umweltzerstörerisches Handeln gerade diese gefährliche Wildnis in Form von Naturkatastrophen und extremen Wetterereignissen immer stärker auch selbst hervorbringt. Architektur ist in diesem Zusammenhang sowohl Verursacher von klimatischen Veränderungen und Umweltzerstörung, als auch Angriffspunkt von Zerstörung durch Naturereignisse, wie Stürme, Fluten, Waldbränden und Ähnlichem.

Die Grenze zwischen dem, was als Kulturraum und dem was als Naturraum bezeichnet werden kann löst sich immer stärker auf. In diesem Entwurf soll Natur als Wildnis betrachtet und damit ihre Unbeherrschbarkeit thematisiert werden. Außerdem soll eine „architektonische Wildnis“ sich mit der Frage befassen inwiefern auch architektonische Räume - also Kulturräume - Orte der Wildnis sein könnten oder bereits sind. Es soll eine Architektur entstehen die sich an der Schnittstelle zwischen Kultur und Natur positioniert und deren scharfe Trennung hinterfragt.

Stadtgarten als Wasserspeicher
Durch den Klimawandel häufend sich Wetterextreme wie extreme Hitze und Starkregen auch in der Region Stuttgart. Die Stadt Stuttgart selbst ist durch seine geografische Lage und Topografie von Wetterextremen besonders stark betroffen. Extreme Hitze im Sommer setzt sich im Kessel fest und kann kaum entweichen, die Gebiete im Kesseltal neigen zur Überflutung. Durch den Klimawandel werden in Zukunft sehr heiße Tage mit über 35 Grad immer häufiger (vgl. Abb. 3), was sowohl für StadtbewohnerInnen als auch für die Stadtnatur eine starke Belastung bedeutet.

Der Stuttgarter Stadtgarten, an dem sich heute der Universitätscampus Stadtmitte befindet, diente der Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg als Naherholungsgebiet und der Wirtschaft als Ausstellungsfläche. Auf dem Areal des Stadtgartens lag ursprünglich einer von drei Seen, die im 14./15. Jahrhundert von den Grafen von Württemberg außerhalb der Stadtmauern angelegt worden waren. Nach der Trockenlegung entsteht an dieser Stelle die „Seewiesen“. Das historische Bild der „Seewiese“ dient dem Entwurf als Inspirationsquelle für einen möglichen heutigen Umgang mit dem Stadtgarten.

Das Bild des Sees soll mit zeitgenössischen Problemstellungen kombiniert werden, die vor allem eine soziale, lebenswerten und ökologische Stadt in den Fokus stellen. Ein aktuell diskutiertes stadtplanerische Konzept ist das der „Schwammstadt“, sie hat das Ziel anfallendes Regenwasser in Städten lokal aufzunehmen und zu speichern, anstatt es lediglich zu kanalisieren und abzuleiten. So viele Flächen wie möglich sollen hierfür entsiegelt werden um Wasser versickern zu lassen. Retention (= Zurückhalten), also das Auffangen von Regenwasser in Mulden oder Retentionsbecken, kann eine wichtige Rolle für die Verbesserung der Stadtklimas und dem Überflutungsschutz spielen. Im Stadtgarten entsteht ein Retentionssee: Das Regenwasser der umliegenden Gebäudedächer soll auf der Fläche des Stadtgartens gesammelt werden, wo es langsam versickern kann. Ein Retentionsbecken kann unterschiedlich ausgeführt werden: In diesem Projekt soll ein Teil des angelegten Sees das Regenwasser durch eine Abdichtung zum Erdreich hin aufhalten, wodurch ein Feuchtbiotop entsteht, das die Biodiversität des Ortes steigert, die Aufenthaltsqualität verbessert und gleichzeitig den Stadtraum durch Verdunstung kühlt. Außerdem beugt die Abkopplung der Entwässerung von der Kanalisation Überschwemmungen vor. Um den Zugang zu Wasser auch in den sich häufenden Zeiten des mangelnden Niederschlags und der Dürre zu sichern und gleichzeitig die umgebende Stadtbebauung vor Überflutungen zu schützen wird ein Überlaufbecken im See platziert. Das Überlaufbecken fungiert zum einen als technisches Bauwerk, soll zum andern jedoch zeitweise betretbar gemacht werden, seine Form künstlerisch und konzeptionell interpretiert und so eine Rolle zwischen der Funktionalität der Architektur und der Funktionslosigkeit einer Skulptur einnehmen.

Formfindung
Ein Repertoire aus zufällig gefundenen, im Stadtraum gesammelten Naturformen wird aufgebaut: Das „objet trouvé“ ist die Grundlage der Formentwicklung. Konkret besteht die Sammlung aus Pflanzenteilen, Stücken von Baumrinden, Ästen, Wurzeln oder Moosen. Von diesen werden im nächsten Abdrücke erstellt. Der Abdruck ist eine technische Methode, die eine Form 1:1 wiedergibt. Die Form wird also reproduziert, vervielfältigt und auf einem anderen Medium festgehalten. Zuletzt erfolgt die architektonische Interpretation und Übersetzung in einen technischen Grundrissplan. Räume werden benannt, ein Eingang eingefügt, Wandstärken im Maßstab angepasst und zusätzliche architektonische Elemente, wie Treppenstufen, und Sitznischen hinzugefügt. Der Umraum der ausgewählten Form wird zur begehbaren Plattform, und beschreibt zugleich die Grenze des Gebäudes, das nun final im Kontext des Stadtgartens ausgerichtet und platziert wird.

Je nach Jahreszeit und dem vorherrschenden Wetter wird der Wasserspeicher in unterschiedlichen Zuständen vorgefunden. Ist über einen längeren Zeitraum viel Regen gefallen so wird dies im Wasserspeicher sichtbar: Der vertiefte Brunnen ist voll gefüllt. Betritt man den Speicher bei oder nach einem Sturm mit Starkregen, so sind nicht mehr alle Bereiche des Beckens betretbar. Der Brunnen läuft über und füllt schrittweise auch den gesamten Speicherbereich. Diese Unzugänglichkeit für den Menschen erzeugt einen Raum in dem sich Flora und Fauna unkontrolliert und ungestört ausbreiten können.

BetreuerInnen: Prof. Stephan Trüby, Prof. Sybil Kohl, Prof. Klaus Jan Philipp, KWM Pia Obermeyer 

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