Grünfassaden für mehr Biodiversität in Städten

25. September 2023

Hitze und Trockenheit in Städten belasten Menschen, Tiere und Pflanzen. Grüne Flächen in Innenstädten bieten Chancen, das Stadtklima positiv zu beeinflussen. Ein interdisziplinäres Forscherteam der Universität Stuttgart aus den Bereichen Bauphysik und Ökologie erforscht die Potenziale grüner Fassaden, um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen.

Stadträume reagieren besonders empfindlich auf die Folgen des Klimawandels. Hitzebelastung, Biotopverlust und Extremwetterereignisse in Städten werden durch dichte Bebauung und starke Versiegelung verstärkt, worunter Gesundheit und Wohlbefinden von Menschen, Pflanzen und Tieren leiden. Ausreichend bepflanzte Flächen in Innenstädten, wie zum Beispiel Grünfassaden können bereits Abhilfe schaffen. 

Naturbasierte Lösungen für lebenswerte Stadträume

Forschende des Instituts für Akustik und Bauphysik (IABP) sowie des Instituts für Landschaftsplanung und Ökologie (ILPÖ) der Universität Stuttgart erforschen dazu die Potentiale grüner Fassaden für das Stadtklima. Vertikale Grünfläche werten das Stadtbild nicht nur optisch auf, sondern leisten mit entsprechender Planung und Pflege deutlich mehr. „Wenn wir die Potentiale grüner Fassaden für das Mikroklima und die Biodiversität ausschöpfen möchten, müssen wir neue Systeme entwickeln“, erklärt Moritz Weckmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IABP.

Eine grün bepflanzte Gebäudefassade.
Südansicht der Forschungsgrünfassade.

Erste Entwicklungsstufe biodiversitätsfördernder Grünfassaden

Im Sommer 2021 wurden die Weichen für die Entwicklung neuartiger Grünfassadensysteme gestellt. Statt den konventionellen, oft monokulturellen Grünfassaden, die primär unter ästhetisch motivierten Gesichtspunkten geplant werden, entwickelten Forschende des IABP und ILPÖ ein neuartiges Grünfassadensystem und setzten dieses, in Kooperation mit der Helix Pflanzensysteme GmbH, in einem Mock-Up um. Das System wurde speziell auf die Bedürfnisse von Insekten, bspw. Wildbienen, zugeschnitten. Neben einer heterogenen Pflanzenzusammensetzung mit wechselndem und hohem Blühvorkommen sowie Nektar- und Pollengehalt, streben die Forschenden an, die Strukturvielfalt zu erhöhen und Nistmöglichkeiten zu schaffen. Der Beirat der Una Terra Förderlinie des Dezernats Forschung und Transfer der Universität Stuttgart war von dem Konzept überzeugt und förderte das Projekt mit einer Anschubfinanzierung.

Im Januar 2022 wurden drei Fassadensysteme mit einer Gesamtfläche von knapp 20 Quadratmetern auf dem Campus Vaihingen errichtet. Das Interesse der Öffentlichkeit an den innovativen Grünsystemen war seither groß und es wurden viele spannende Fragen gestellt, die eine vertiefende wissenschaftliche Untersuchung nahelegten.

200 Quadratmeter Grünfassade entstehen

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IABP und ILPÖ erarbeiteten zwei weitere Forschungsanträge. Mit einem noch größeren Mock-Up möchten die Forschenden die biodiversitätsfördernden Potentiale des Systems optimieren und die ökologischen sowie bauphysikalischen Wirkungen mit Hilfe eines (Langzeit-)Monitorings untersuchen.

Vorher-Nachher-Effekt: links ist die Fassade direkt nach der Bepflanzung zu sehen, rechts sechs später.
Durch Vorkultivierung und gute Wachstumsbedingungen bildet sich schnell eine dichte Pflanz- und Blattstruktur. Im Vergleich ist eine Zeitspanne von sechs Wochen abgebildet.

Nach etwa einem Jahr Planung und dem Abschluss der vorbereitenden baulichen Maßnahmen installierten die Forschenden im April 2023 ein bodengebundenes sowie zwei wandgebundene Grünfassadensysteme auf dem Fraunhofer-Campus in Stuttgart-Vaihingen. Durch die Vorkultivierung der Pflanzen im Gewächshaus und dem modularen Aufbau des wandgebundenen Grünsystems, begrünte das Forscherteam in vier Tagen insgesamt fast 200 Quadratmeter Fassadenfläche. Bereits drei Wochen nach dem Bau bildete sich eine dichte Blattstruktur.

Die beiden Forschungsprojekte werden vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Klimainnovationsfonds der Stadt Stuttgart gefördert. Der Bau der Fassaden und die wissenschaftliche Begleitung werden durch das Fraunhofer Institut für Bauphysik unterstützt.

Flora und Fauna an der wilden Klimawand

„Unter den rund 70 eingesetzten Pflanzenarten befinden sich viele heimische Wildstauden, Kräuter und Gräser“, erläutert Eva Bender, wissenschaftliche Mitarbeiterin des ILPÖ. „Ein Ziel der heterogenen Pflanzzusammensetzung ist ein ganzjährig hohes Blühvorkommen mit hohem Pollen- und Nektargehalt. So werden ausreichend Nahrungsangebote für Bestäuber, wie zum Beispiel Wildbienen, gewährleistet.“

Die faunistische Vielfalt wird darüber hinaus durch speziell angefertigte und in das Fassadensystem integrierte Habitatmodule gefördert. Für Wildbienen werden Niströhren aus Bambus, Schilf und Pappe sowie Lehmwände, Hart- und Totholzhabitate angeboten. Für bodennistende Insekten sind kleine Sandflächen, sogenannte Sandarien, integriert. Neben Insekten sollen potenziell auch Vögel und Fledermäuse die Wand bewohnen, da deren Lebensräume in Städten zunehmend verloren gehen. Die Habitatmodule sind aus unbehandeltem Holz gefertigt und sprechen durch variierendes Raumvolumen und Einfluglöcher verschiedene heimische Tierarten an.

Vogel- und Fledermaushabitate in den hochgelegenen Bereichen der Ostfassade, eine Woche nach dem Bau.
Vogel- und Fledermaushabitate in den hochgelegenen Bereichen der Ostfassade, eine Woche nach dem Bau.

Wissenschaftliche Begleitung und erste Ergebnisse

Über die Projektlaufzeit messen fest installierte Sensoren mikroklimatische Veränderungen in und an den Fassaden sowie den Habitatsystemen. „Die bisherigen Ansätze wurden nicht nur hochskaliert, sondern auch weiterentwickelt. Auch die Erfassungsmethodik wurde entsprechend ergänzt“, erklärt Melina Wochner, wissenschaftliche Mitarbeiterin des IABP. „Anhand der erhobenen Daten und dem Vergleich mit Bestandssystemen, lassen sich mikroklimatische Ausgleichspotenziale des Systems nicht nur in Bezug auf den Komfort der Menschen, sondern auch das Potenzial für die Standortqualität für Flora und Fauna ableiten.“

Bereits nach drei Monaten Standzeit gibt es spannende Entwicklungen. Neben vielzähligen gesichteten Nistverschlüssen unterschiedlicher Wildbienenarten und der Ansiedlung der heimischen Hornisse, einer besonders geschützten Art, konnte auch eine Lufttemperaturpufferung in den Vogelhabitaten durch die umliegenden Pflanzen festgestellt werden. Inwieweit dies zur Steigerung der Lebensraumqualität von Vögeln und Brut im Zuge des Klimawandels beiträgt, wird nun weiter untersucht. Ein Meilenstein bei den Singvögeln ist bereits jetzt zu verzeichnen: Der erste Amsel-Nachwuchs ist flügge geworden.

Links: Ein Amseljunges in der Fassade. Rechts: Eine Hornisse beschafft Material für den Nestbau in einem Habitatsystem der Fassade.
Links: Ein Amseljunges in der Fassade. Rechts: Eine Hornisse beschafft Material für den Nestbau in einem Habitatsystem der Fassade.

Grünfassaden können öffentlich besucht werden

Für Interessierte bietet sich im Rahmen des öffentlichen Climate Wall Dialogue die Möglichkeit, die Fassaden zu besichtigen. Der Dialog findet monatlich bis Oktober 2023 statt und wird nach einer Winterpause 2024 fortgesetzt. Anmeldungen sind über die Projektwebseite möglich, die Teilnahme ist kostenlos.

 
Kontakt

Moritz Weckmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Akustik und Bauphysik, Tel.: +49 711 685 60414, E-Mail

Eva Bender, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Landschaftsplanung und Ökologie, Tel.: +49 711 685 81138, E-Mail

Melina Wochner, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Akustik und Bauphysik, Tel.: +49 711 685 66598, E-Mail

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