Arno Lederer (1947 - 2023)

26. Januar 2023

Ein Nachruf von Prof. Alexander Schwarz, dem Nachfolger von Prof. Arno Lederer als Direktor des Instituts für öffentliche Bauten und Entwerfen (IÖB) der Universität Stuttgart

Das Werk Arno Lederers steht in der Stuttgarter Universitätsbibliothek zwischen Le Corbusier und Claude-Nicolas Ledoux. Man mag das einen merkwürdigen Zufall nennen, man kann es aber auch sehen. Bei seinen Schulbauten zum Beispiel, dem Salem International College mit Internat in Überlingen (2000) oder der Grund- und Hauptschule mit Werkrealschule in Ostfildern (2002). Beide erscheinen zunächst rational entworfen, voller Logik, Methode, Strenge und Charakter, um dann in eine baukörperliche Formenwelt einzutauchen, die mit der Funktion nicht mehr zu erklären ist. In Ostfildern tritt der Zwillingskegel der Schornsteine vor der Turnhalle in Beziehung zu den anderen – liegenden – Baukörpern, zur Landschaft, zum Material (hier erstmals der grob vermörtelte Ziegel) und zu einer Vergangenheit vor der Moderne. Zwar zeigt die Form, wie der stehende Baukörper sein Gewicht an die Erde abgibt, doch erklärt das nicht seine körperhafte Erscheinung. Eine architecture parlante, die ähnlich wie bei Ledoux’ Königlicher Saline in Arc-et-Senans im besten Sinne merkwürdig bleibt, weil sie mindestens so viel für sich behält wie sie ausspricht. Man begreift sie nicht als Benutzeroberfläche, die Information liefert, sondern begegnet ihr als Mensch sinnlich und körperlich.

Dieser baukünstlerische Zugang zur Form, der uns auch bei Le Corbusier begegnet, zeigt sich besonders auch in einem Schlüsselwerk Lederers, dem Hessischen Staatstheater in Darmstadt (2006). Dabei handelt es sich nicht um einen Neubau, sondern um die Metamorphose eines Nachkriegsmoderne-Irrtums des autogerechten Theaters – quasi um die Apotheose der autogerechten Stadt – zu einem Theater für den Menschen, der sinnesbegabt ins Theater geht oder spaziert, also mit seinem Körper gehend (und nicht mit dem Auto) den Raum erfährt. Von Ferne an Gottfried Sempers „Triumphbogen“ vor dem Dresdener Opernhaus erinnernd, kommt das Theater heute dem Besucher mit einem Altan entgegen – ein feinstes Stück Sichtbeton-„architecture parlante“, das viel von Lederers Haltung zeigt. Triumphiert hier vielleicht die Lust am Theater und an der freien Form, die sich dem Menschen „ganzheitlich“ (das Wort sei ausnahmsweise erlaubt) zuwendet, ohne einseitiges Optimierungskalkül? Bemerkenswert ist jedenfalls, dass der vielfach kritisierte Bestandsbau aus der Zeit der Nachkriegsmoderne nicht polemisch zerstört wird, sondern neu aufgeht in einer – Lederers – neuen Sicht auf das Ganze. Das Pragmatische und das Ideale, Beharrlichkeit und Zuwendung geben sich die Klinke in die Hand. 

Wie bei nur ganz wenigen Architekten zeigt sich diese synthetisierende Fähigkeit im Werk wie in der Lehre. Arno Lederer war ein charismatischer Architekturlehrer. Als Kulmination seiner akademischen Tätigkeit leitete er für zehn intensive Jahre an der Universität Stuttgart das Institut für öffentliche Bauten und Entwerfen (IÖB) der Fakultät für Architektur und Stadtplanung, und Letztere prägte er für vier Jahre auch als Dekan. So etablierte er beispielsweise für die Lehre im ersten Semester die Vorlesung „Standpunkte der Baukultur“, die den jungen Studierenden die Vielfalt der an der Fakultät vertretenen Positionen auffächern soll. Legendär waren die sogenannten Kaminfeuergespräche zwischen den vier Professoren Klaus Jan Philipp, Markus Allmann, Gerd de Bruyn und ihm. Kritisch gegenüber einer seiner Ansicht nach zu sehr vom Machen und Machbaren geprägten Architekturausbildung in Karlsruhe, folgte er dem Ruf nach Stuttgart und vertrat die Position einer revidierten Moderne, die – anders als mehrheitlich in der Generation vor ihm anzutreffen – ohne den Mythos einer Stunde Null auskommt. Seine prägenden Einflüsse – vor allem Ernst Gisel (in dessen Zürcher Büro er als junger Architekt arbeitete), Sigurd Lewerentz, Alvar Aalto und Peter Celsing – hatten die Suche nach einer kontinuierlichen Moderne vorgelebt, die zugunsten des Ganzen den Bruch nicht braucht. Oszillieren die frühen Lederer-Bauten bei dieser Suche noch zwischen klassischer Moderne und Postmoderne (wie z.B. der Kindergarten in Tübingen aus dem Jahre 1988), so führt seine spätere Architektur sukzessive zu einer ganz eigenen, wiedererkennbaren Position.

In den letzten drei Dekaden hat das Büro, das ab 1985 in Partnerschaft mit seiner Frau Jórunn Ragnarsdóttir geführt und ab 1992 um Marc Oei als dritten Partner ergänzt wurde, Meisterwerke errichtet wie das Kunstmuseum Ravensburg (2013) – bemerkenswerterweise ein Passivhaus. Als ebenso eigenwilliges wie einnehmendes Ziegelvolumen fügt es sich in den Kontext und bringt einen besonderen Ort hervor, der mit konisch zulaufenden preußischen Kappen bedacht wird. Als neuester Ziegelbau in etwas industriellerem Kontext zelebriert das Münchner Volkstheater (2021) Lederers baukünstlerische Fähigkeiten, Stadträume wie Innenräume in skulpturaler Vielfalt auszuprägen, ohne auch nur im geringsten Architektur mit Skulptur zu verwechseln.

Hervorzuheben unter den zahlreichen Bauten sind auch die öffentlichen Bauten in Stuttgart, der solitäre Erweiterungsbau der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (2020), der einerseits den modernen Stadtlandschaftsraum des Oberen Schloßgartens fortschreibt und andererseits die Konrad-Adenauer-Straße als innerstädtischen Straßenraum wiederzugewinnen versucht – ein Anliegen, bei dem Arno Lederer immer wieder zum Propheten im eigenen Lande wurde.

Obwohl er durchaus wie ein Prophet reden konnte. Er war geschätzt und gefragt als Redner, als Festredner wie als Juryvorsitzender von Wettbewerben nationaler und internationaler Bedeutung wie dem neuen Münchner Konzerthaus oder dem Wettbewerb für das Museum des 20. Jahrhunderts auf den Berliner Kulturforum. Er konnte virtuos zeichnen und schreiben und war damit eine ungewöhnlich komplette Erscheinung in der Architekturwelt. Nicht zuletzt aufgrund der Doppelgabe „Architektur machen“ und „Architektur vermitteln können“ war er allerseits hoch geschätzt. Zuletzt konnte man das erfahren bei der Präsentation des Buches Drinnen ist anders als draußen, einem Lesebuch über Architektur mit einer reichen Auswahl seiner Texte. Vorgestellt wurde das Buch am Samstag, den 14. Januar 2023, im vollbesetzten Hospitalhof in Stuttgart, jenem Meisterwerk Lederers, in dem er selbst so oft zu erleben war. Eine Präsenz von ihm an diesem Abend war ihm bereits nicht mehr vergönnt. Im Zenit seines Schaffens ist er – viel zu früh – eine Woche später, am Samstag, den 21. Januar 2023, nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Die Architekturwelt verliert einen Generalisten, der immer den Menschen im Zentrum seines Schaffens sah. Die ihn kannten, verlieren einen Menschen voller Humor, Zugewandtheit und künstlerischer Beharrlichkeit.

Wir sind tief traurig.

 

Foto: Prof. Stephan Trüby
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